Sakrileg

Novelle von Oskar Jan Tauschinski

Unzählige Kruzifixe hatte der Herrgottsschnitzer Meister Adalbert

schon geschaffen: Christus, den König der Juden, und Christus,

den aufrührerischen Grübler, den schmerzgequälten und verzagenden

Gottessohn, der nicht begreifen kann, das der Vater ihn verlassen hat,

und den himmlischen Erlöser, der das Haupt still auf die Brust senkt,

 weil vollbracht ist, was zu vollbringen war. Er war berühmt geworden

und wohlhabend, ein geachteter Bürger seiner Stadt. Auf dem Gipfel seiner

Meisterschaft erhielt Adalbert nun vom Hohen Senat den ehrenvollen Auftrag,

für die Pfarrkirche Sankt Marien einen Kruzifixus zu schaffen, gewaltiger und

ehrfurchtsgebietender als er ihn je aus dem leblosen Lindenholz geschlagen hatte.

Getrieben von dem Ehrgeiz, dem übermenschlichen Leiden Christi

menschlichen Ausdruck zu verleihen und damit seinen unsterblichen Ruhm

 zu begründen, macht er sich ans werk. Er war besessen von dem maßlosen

Verlangen, die Grenzen seiner Schöpferkraft zu überschreiten:

„Eine Minute lang Gott gewesen zu sein, das ist das größte Glück,

die vollkommene Lust.“ Er hat sein Meisterwerk vollendet, sein hölzerner

Gottessohn wird von den Pilgerscheren bewundert, die Wunderheilungen,

 die er bewirkt sind in aller munde. Dem Bettler vor dem Kirchenportal schreit

er seine lebensbeichte und Selbstanklage in die tauben Ohren:

„doch die Minute verstrich. Der Augenblick ging vorbei.

Gott hatte mich schon überholt und lief voraus. Da war ich nicht mehr Gott,

der seinen Odem dem Geschöpf einflößte und ihn wieder zurücknimmt,

sondern nur ein Mensch, nur Gottes Zerrbild; ein schöpferisch begabter Mörder.“

 

Quelle: Einband des Buches